Meditation zum Bild
In der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel, einem Trost- und Hoffnungsbuch für angefochtene Christen, beschreibt der Seher Johannes, wie er die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sieht. An der Stelle der alten, vergangenen Welt lässt Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde treten. Auf die Erde senkt sich vom Himmel das neue Jerusalem herab, das dort für den Anbruch der neuen Welt bereitgehalten wird. Hier wird wahr, was im alten Gottesvolk, das sich um den Tempel als Ort der Gegenwart Gottes scharte, zeichenhaft vorgebildet war: Gott nimmt Wohnung unter den Menschen. “Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen,” sagt die Stimme vom göttlichen Thron. (Offb 21,3)
Natürlich, das ist eine Vision. Aber mir kommt diese Vision in den Sinn, wenn ich das Bild von Peter Blau betrachte. Gottes Hütte ist bei den Menschen. Die gotischen Baumeister haben das gewaltige Gebäude geschaffen. Aber ich vermute, sie wollten damit nicht zeigen, wie hoch sie hinaus konnten, sondern sie wollten das deutlich machen: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen.
“Bei den Menschen” hat Peter Blau die Evangelische Stadtkirche gemalt. Und da gehört sie hin. Sie steht nicht einsam und verlassen, isoliert von dem, was sonst in der Stadt geschieht, auf einem Hügel, am höchsten Punkt der Stadt. Sie steht mitten in der Stadt, fast etwas verdeckt von der Alten Wache, die früher eine wichtige politische Bedeutung hatte.
Die Evangelische Stadtkirche, die Hütte Gottes bei den Menschen. Oder kann man sagen: die gute Stube der Stadt? Ich beobachte das Bild von Peter Blau, einem Apotheker meiner Heimatstadt, und sehe vier Dinge:
Die Kirche steht im Hintergrund. Und ich versuche sofort, das Abendlied von Matthias Claudius ein wenig umzudichten: Sie ist nur halb zu sehen und ist doch groß und schön. Es kommt nicht in erster Linie auf die Größe an, auch nicht darauf, dass die Kirche immer zu sehen ist. Es kommt darauf an, dass sie da ist, dass sie im Hintergrund stehend auch eine Wächterfunktion wahrnimmt, erinnernd an den Wächter, der früher “sehr hoch auf der Zinne” die Menschen zur Wachsamkeit aufrief. Diesen Dienst sind wir als Kirche über die fast acht Jahrhunderte, in denen die Kirche hier steht, den Menschen in der Stadt schuldig – auch im Hintergrund.
Die Kirche steht mitten in der Stadt. Als wir 2002 über einen neuen Kirchenführer nachgedacht haben, haben wir auch gefragt, ob nicht als Titelbild besser ein Bild zu nehmen wäre, auf dem die Kirche in ihrer vollen Größe und Schönheit zu sehen ist. Wir haben darüber diskutiert und uns am Ende für das Bild von Peter Blau entschieden, weil es die Wirklichkeit zeigt und einen Auftrag für uns bereithält. Die Kirche darf eben nicht isoliert dastehen. Wir gehören mitten in die Welt. Dafür steht das Café in der Alten Wache, Sinnbild dafür, dass wir mit den Menschen in ihrem Alltag leben müssen. Dafür steht – wenn auch nur ganz am Rand – das alte Rathaus, heute ein gastronomischer Betrieb, früher aber der Ort, an dem für die Stadt Wolfhagen Entscheidungen getroffen wurden. Dafür steht – ein wenig versteckt im Hintergrund – das Haus vom alten Färber Spahn als Zeichen dafür, dass Kirche da zu sein hat, wo Menschen “im Schweiße ihres Angesichts” ihr Brot essen.
Die Zeit zerfließt. “Zeit ist Gnade,” so lautet die Inschrift auf einer alten Turmuhr. Das den Menschen bewusst zu machen, ist Aufgabe der Kirche. Ich sehe die Andeutung der zerfließenden Zeit auf Peter Blaus Bild auch als eine Herausforderung an jeden Einzelnen. Am Anfang und am Ende der zerfließenden Lebenszeit steht Gott. Ihm, der uns in der heiligen Taufe in seinen Zeitlauf aufnimmt, und ihm, der uns bis zu unserer letzten Stunde nahe ist, sind wir auch für unsere Zeit verantwortlich. Im alten Beichtgebet der Kirche beten wir deshalb auch: “Herr, du hast mich in deinen Dienst gerufen, aber ich habe die Zeit vertan, die du mir anvertraut hast.” Die Zeit zerfließt. Sie ist nicht mehr zurückzuholen.
Eine Laterne – als Zeichen des Lichts. Sie ragt in den wuchtigen Turm der Stadtkirche hinein, die Laterne, und sie berührt fast die zerfließende Zeit. Mir wird dadurch deutlich, dass es in aller Vergänglichkeit, unter der wir Menschen leben, und manchmal ja auch leiden, ein Licht gibt, das uns den Weg weist zu Gott, zu Gottes Haus, zur guten Stube meiner Stadt. Aber die Laterne will auch sagen: Ihr Christen, die ihr diese gute Stube besucht am Sonntag und manchmal auch unter der Woche, ihr seid das Licht der Welt, mitten in der Stadt, mitten in aller Geschäftigkeit und Arbeit.
Gottes Hütte ist bei uns Menschen. Das Bild macht mir das deutlich. Seine gedeckten Farben weisen mich behutsam hin auf die Mitte meines Glaubens, meines Lebens. Sein “moderner” Stil zeigt mir, dass die Kirche auch mit der Zeit gehen muss. Seine Mitte weist in den Himmel. So wie nach der Vision des Sehers Johannes sich das neue Jerusalem auf die Erde hinabsenkt, so klar ist auch, dass all das, was in dieser Kirche geschieht, die Verkündigung in Wort und Musik, hinweist auf das himmlische Jerusalem, das Ziel des Lebens und der Zeit. Das zu verstehen, dazu hilft mir das Bild von Peter Blau “Kirche, Alte Wache Wolfhagen, 1988.”
Günther Dreisbach